(K)Ein Neuanfang nach Trump?
Krankenversicherungen in der US-Wahl 2020
von Nils Hofmann
In der politischen Debatte in den USA um die Organisation des Krankenversicherungssystems stehen sich individuelle (Wahl)Freiheit und gesellschaftliche Solidarität unversöhnlich gegenüber. Das Recht jedes*r Einzelnen auf eine freie Wahl des Versicherungsstatus war bisher unantastbar. Die Bereitstellung gesundheitlicher Versorgung tragen die Schultern jeder einzelnen Person alleine und damit nicht die Gesellschaft solidarisch als ganze.
Zuletzt wurde diese Diskussion wieder im Wahlkampf um die Präsidentschaft in den USA geführt. Die letzten Stimmen rattern noch durch die Zählmaschinen, doch der Kandidat der Demokraten, Joe Biden – angetreten, um das Land nach Jahren der Spaltung durch Donald Trump endlich wieder zu einen – konnte Anfang November nach nervenzehrenden Tagen des Wartens die Wahl letztendlich für sich entscheiden.
Doch knapp drei Wochen nach der Entscheidung kommt das Land in der Corona-Pandemie weiterhin nicht zur Ruhe. Im Gegenteil. 12 Millionen Infektionen. 250.000 Tote. Schulen werden wieder geschlossen. Intensivstationen sind überfüllt. Täglich übertrumpfen sich die Infektionszahlen zu neuen Rekorden. Mittlerweile sind es knapp 200.000 pro Tag. Die landesweite Arbeitslosigkeit erreichte im April mit 15% ebenfalls einen historischen Rekord. Mittlerweile sind es ca. 7%, was eine Verdopplung der Arbeitslosigkeit gegenüber November 2019 darstellt.
Das Sozialsystem, vor allem die Struktur der Krankenversicherungen, gibt der Bevölkerung jedenfalls keinen Anreiz, ihr Verhalten in der Pandemie zu ändern. Zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung sind in den USA über ihren Arbeitsplatz versichert. Verliert man seine Arbeit, verliert man seinen Krankenversicherungsschutz. Für Schätzungsweise sechs Millionen Menschen ist das bereits bittere Realität geworden. Wenn man ein Krankenhaus aufsucht, drohen zusätzlich hohe Kosten, die nicht von der Versicherung gedeckt werden. Diese Ängste treiben die Menschen trotz Krankheitssymptomen weiter in die Arbeit, was eine Kontrolle der Ausbreitung des Virus zusätzlich erschwert.
Wie funktioniert grundlegend das Krankenversicherungssystem in den USA?
Das Krankenversicherungssystem gleicht einem Flickenteppich. Es gibt kein allgemeines System, sondern für spezielle Problemlagen wird jeweils ein in sich geschlossenes neues System erstellt. Die bereits bestehenden existieren weiter: Aktuell gibt es in den USA eine öffentlich-finanzierte Krankenversicherung nur für Menschen, die über 65 Jahre alt sind (Medicare-program), die der Definition nach an der Armutsgrenze leben (Medicaid-program) oder für das Militär arbeiten. Jeder Notfall muss unabhängig vom Versicherungsstatus gemäß des Emergency Medical Treatment and Labor Act behandelt werden. Darauf aufbauend hat jede*r Bürger*in das Recht, seinen*ihren Versicherungsstatus selbst, privat, zu organisieren. Von den 330 Millionen Menschen in den USA sind knapp 50% über ihren Arbeitsplatz oder eine Gewerkschaft versichert, die über private Versicherungskonzerne Tarife für ihre Belegschaft aushandeln. Stand 2019 waren in den USA rund 30 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung.
Die privatwirtschaftliche Organisation der Krankenversicherung erlaubt es den Versicherungskonzernen bestimmte Leistungen in ihre Tarife einzuschließen, aber auch auszuschließen. In Konsequenz muss man deshalb aus verschiedenen Paketen wählen, bspw. „Gold, Silber, Basis“, und basierend auf dem individuellen Budget sind dann bestimmte medizinische Leistungen, wie z.B. zahnmedizinische oder psychiatrische Behandlungen, nicht inkludiert. Diese Leistungen müssen zusätzlich privat gezahlt werden.
Außerdem kann man nicht überall in den USA die vereinbarten Leistungen in Anspruch nehmen: Die Versicherungskonzerne schließen mit Klinikkonzernen und niedergelassenen Ärzt*innen Deals für ihr Klientel ab. Ist eine Einrichtung nicht Teil dieses Netzwerkes, muss auch dort jede Leistung selbst gezahlt werden oder man wird abgewiesen. Häufig kommunizieren Krankenhäuser im Vorfeld die zusätzlich anfallenden Kosten nicht, weshalb Patient*innen im Nachhinein von horrenden Rechnungen überrascht werden – den sogenannten „surprise bills“. Diese Organisation bedeutet für viele amerikanische Haushalte eine enorme finanzielle Belastung: Laut einer Studie des Journal of Public Health waren an rund 60% der Privatinsolvenzen der letzten Jahre medizinische Kosten entscheidend beteiligt.
Zusätzlich bedeutet eine private Krankenversicherung nicht automatisch eine adäquate Versorgung. Im Zuge der hohen Infektionszahlen in New York im Frühling dieses Jahres war die Todesrate von Covid19-Patient*innen in Krankenhäusern bestimmter Netzwerke in New York im Vergleich dreifach erhöht, weil sie durch die privatwirtschaftlichen Beiträge in ihrer Ausstattung schlicht unterfinanziert waren. Der Abschluss einer teureren Versicherung ermöglichte den Zugang zu einem besser ausgestatteten Krankenhaus – das Beatmungsgerät muss man sich leisten können.
Welche Pläne haben Joe Biden und Donald Trump vorgestellt, um Veränderungen herbeizuführen?
Die Grundpfeiler dieses Systems will Joe Biden nicht ändern. Als ehemaliger Vizepräsident unter Obama macht er die Erfolge von Obamacare zu seinem Aushängeschild. Obamacare hatte u.a. Medicaid für einen größeren Teil der an der Armutsgrenze lebenden Bevölkerung zugänglich gemacht. Über eine Versicherungspflicht, die mit staatlichen Subventionen zur Senkung der Beitragskosten unterstützt wurde, konnte die Zahl der Unversicherten halbiert werden. Zusätzlich wurde das Ablehnen von Menschen mit zu schweren Vorerkrankungen durch Krankenversicherungen verboten. Neben kleineren Reformen innerhalb des Systems, wie einem Transparenz-Gesetz gegen die surprise bills, will Biden die monatlichen Maximalkosten für Versicherungsbeiträge auf 8,5% des Einkommens limitieren und eine zusätzliche Public Option neben den bisherigen Optionen der Privatversicherung etablieren. Diese soll staatlich gefördert neben Medicaid und Medicare installiert werden. Ihr Erfolgspotenzial hängt davon ab, wie viele Menschen zahlend beitreten, um einen Pool an Kapital generieren zu können, der möglichst viele Menschen versorgen kann. Es ist aber weiterhin kein gesamtgesellschaftliches Projekt.
Hingegen hat Donald Trump in seiner ersten Amtszeit alles daran gelegt die Fortschritte durch Obamacare rückgängig zu machen. Außerdem sollen dem staatlichen Rettungsschirm für die ärmere Bevölkerung, Medicaid, die Mittel gekürzt werden. Ziel ist der Ausbau der privatwirtschaftlichen Krankenversicherung, die er den Menschen mit einem weiteren Zuschuss erschwinglich machen will. Bidens Public Option nennt Trump „socialism“. Die Durchsetzung dieser Pläne über die Parlamente blieb ihm aufgrund der Mehrheit der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus verwehrt, weshalb er die Neubesetzung zweier Posten am Obersten Gerichtshof mit der Nominierung zweier ultrakonservativer Richter*innen im Sinne seiner Agenda nutze, um eine Wende weg von Obamacare und einer liberalen Schwangerschaftsabbruchspolitik einzuleiten.
Zusätzlich möchte auch Trump die Transparenz der Kosten gegen die surprise bills erhöhen. Medikamentenpreise sollen durch Importe aus dem Ausland gesenkt werden und den Menschen dadurch bares Geld sparen.
Keine Alternative in Sicht?
Nach einer wirklichen Wahloption für eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems klingen beide Positionen der Präsidentschaftskandidaten nicht. Eine grundlegende Änderung im Gesundheitswesen ist für die unversicherte Bevölkerung nicht in Sicht. Die Entscheidung gegen eine solche Option wurde in den USA im Frühjahr 2020 gefällt: Im Wahlkampf um die Nominierung für die Präsidentschaftskandidatur innerhalb der Demokratischen Partei. Hier setzte sich Joe Biden in einem zuerst knappen, letztlich dann doch eindeutigen Rennen gegen seine Mitbewerber*innen durch. Bidens finaler Konkurrent: Bernie Sanders, Senator aus dem Bundesstaat Vermont. Zwischen Biden und Sanders spitzte sich der Konflikt zwischen einem ‚Weiter wie bisher‘ und einem Erneuerungsversuch im Krankenversicherungssystem zu.
Bernie Sanders plädiert dafür, das gesamte Krankenversicherungssystem zu reformieren. Die private Krankenversicherungen mit ihren regionalen Netzwerken sollten abgeschafft und durch Medicare for all ersetzt werden, einem Versicherungsschutz unabhängig vom Status der Anstellung oder der Höhe des monatlichen Beitrags. Alle Bürger*innen sollten verpflichtet werden in einen staatlich organisierten Topf einzuzahlen, ähnlich der gesetzlichen Krankenversicherung in Österreich, um daraus solidarisch einen Versicherungsschutz für alle Menschen des Landes herzustellen. Von Medicaid und die Reformen durch Obamacare würde diese Versorgung noch nicht gewährleistet werden. Die zuzahlungsfreie Grundversorgung müsse auch auf u.a. Zahn-, Augen-, Ohrmedizinische und psychiatrische Behandlungen ausgeweitet werden, die in vielen Paketen der Privatversicherungen schlicht erst ab einem hohen monatlichen Beitrag inklusive sind oder direkt privat gezahlt werden müssen. Private Zusatzleistungen über Medicare for all könnten jeder Zeit individuell in Anspruch genommen werden, um weiterhin eine bestimmte Wahlfreiheit gewährleisten zu können.
Die Demokratische Partei unter Joe Biden hält also weiterhin den Wert der Wahlfreiheit bei der Krankenversicherung hoch, doch scheint sich die Frage nach der Integrität der Partei gerade neu zu stellen: Ein immer größerer Teil fordert Medicare for all und weitere progressive Reformen des Sozialsystems. Ihr Zuspruch für Biden wird von seinen Maßnahmen zur Integration dieser Forderungen abhängen, was mittlerweile dazu geführt hat, dass Bernie Sanders als potenzieller Arbeitsminister im Kabinett Biden diskutiert wird.
Die Diskussion um das Verhältnis von individueller (Wahl)Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität in den USA setzt sich weiter fort. Gerade jetzt durch die Erfahrung des Ausnahmezustandes einer weltweiten Pandemie lässt sich für die Zukunft vielleicht ein neues Licht auf die Frage werfen, inwiefern gesellschaftliche Solidarität im Stande sein könnte, neue Formen individueller Freiheit zu ermöglichen oder alte zu sichern.
Abbildungen
Titelbild: Bild von Tumisu auf Pixabay
Sparschwein: Bild von Gino Crescoli auf Pixabay
Zeitung: Photo by Markus Spiske on Unsplash