„Was ist es denn?“ – Die medizinische Haltung in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit

von Tara Meister

In den letzten Jahren wird die Rolle der Medizin in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit zunehmend neu überdacht – es ist auf jeden Fall an der Zeit.

Am 09.06.2021 hat sich der Gleichbehandlungsausschuss einstimmig für den Schutz von intergeschlechtlichen Kindern vor medizinischen Eingriffen ausgesprochen. Damit soll sich die Situation nach langjährigen Forderungen für Betroffene zukünftig nun endlich verbessern. Zuletzt wurde Österreich 2020 von dem UN-Ausschuss für Rechte des Kindes dazu aufgefordert, nicht notwendige Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern zu unterbinden. Plattformen wie vimö und HOSI, die sich aktiv für die Rechte von intergeschlechtlichen Menschen einsetzen, fordern nun eine rasche rechtliche Umsetzung und ein entsprechendes gesetzliches Verbot.

Der Wandel der medizinischen Betreuung

In der Vergangenheit, seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts, war ein nicht eindeutig zuordnungsbares Geschlecht Indikation für eine geschlechtsangleichende Operation, üblicherweise möglichst bald nach der Geburt. Einer der großen Verfechter dieser Praxis, John Money, begründete diese damals mit einer verbesserten psychischen Entwicklung der Kinder, wenn sie eindeutig einem Geschlecht zugeordnet seien. Fallgeschichten von Betroffenen legen heute das Gegenteil nahe, viele Interpersonen finden sich mit dem ihnen zugeordneten Geschlecht nicht zurecht oder leiden unter einer späten Aufklärung über die Behandlungen im Kindesalter.

Seit Jahren sprechen sich ärztliche Richtlinien gegen „geschlechtsangleichende“ kosmetische Eingriffe an Babies und Jugendlichen aus. Denn neben der Verletzung des Rechts auf eine freie, persönliche Entscheidung, ist auch das biologische Outcome nach nicht notwendigen Operationen oft schlecht. Häufig sind beispielsweise sexuelle Funktionsstörungen oder Probleme beim Wasserlassen, außerdem müssen oft Folgeoperationen durchgeführt bzw. Hormone substituiert werden.

Heute geht es bei der Betreuung von Interpersonen nicht nur darum, unnötige, nicht konsensuelle Operationen zu vermeiden, sondern ganz grundsätzlich darum, Menschen nicht in binäre Konzepte zu drängen, sondern Geschlecht als Kontinuum zu betrachten und das dementsprechend zu kommunizieren. Die meisten Interpersonen leben entweder als Frau oder als Mann, trotzdem sollte Druck von außen vermieden werden, um im besten Fall eine freie und selbstbestimmte Entscheidung zu ermöglichen. Hierbei ist vor allem auch auf sensible Sprache zu achten, beispielsweise sollte nicht von einer „Störung“ (disorder) der Geschlechtsentwicklung gesprochen, sondern auf neutralere Begriffe zurückgegriffen werden, wie „Difference of Sexual Developement“ (DSD).

DSD umfasst eine große Vielfalt körperlicher, genetischer und hormoneller Veränderungen, die gegenüber Interpersonen möglichst nicht pathologisiert werden sollte.
Für eine umfassende Betreuung von Betroffenen und Angehörigen braucht es eine multidisziplinäre Zusammenarbeit zwischen medizinischen Bereichen wie der Endokrinologie, Urologie, Gynäkologie, Geburtshilfe, Andrologie, Psychologie, Medizinethik und Genetik. Nach wie vor mangelt es an entsprechenden Einrichtungen, die medizinische und psychosoziale Unterstützung anbieten. Für manche DSDs wie das Turner-Syndrom oder das Klinefelter-Syndrom bestehen bereits etablierte Leitlinien für die medizinische Betreuung, in anderen Bereichen bestehen nach wie vor große Lücken.

Insbesondere für die vulnerable Zeit der Pubertät ist eine engmaschige Versorgung und Aufklärung von Interpersonen essenziell. Später, in der Erwachsenenbetreuung, mangelt es durch frühere inadäquate Behandlungen oft an Vertrauen der Betroffenen in das medizinische System, weshalb sie oft eine weitere medizinische Betreuung ablehnen. Gerade schlechte Erfahrungen mit Behandlungen in der Kindheit können dieses Phänomen massiv verstärken. Auch für Studien in diesem Bereich stellen verlorene Follow-ups eine große Schwierigkeit dar, gerade weil hier eine umfassende Datenerhebung zur Lebensqualität und Entwicklung nötig wäre.

Klinische Situationen

Auch wenn schätzungsweise ca. 1,7 Prozent der Bevölkerung intergeschlechtlich ist, kommen nur etwa zwei von tausend Kindern mit einem phänotypisch uneindeutigen äußeren Genitale zur Welt. Andere intergeschlechtliche Variationen werden oft erst in der Pubertät oder auch gar nicht erkannt. Es handelt sich also um eine seltene Situation in der Klinik, dementsprechend kann es medizinisches Personal unvorbereitet treffen. Nach wie vor findet sowohl im Studium als auch für die entsprechenden Berufsgruppen zu wenig Training und Sensibilisierung statt.

Ist der Befund bei dem Geschlecht eines Neugeborenen uneindeutig, löst das unter dem medizinischen Personal oft Verwirrung aus. Wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein, wie verunsichernd diese Verwirrung für die Mutter bzw. die Eltern des Kindes sein können. In den hochsensiblen Momenten nach der Geburt kann es sehr destabilisierend sein, wenn Unsicherheiten entstehen, das Personal möglicherweise tuschelt oder gar das Neugeborene weggebracht wird. Es ist wichtig den Eltern die Wahrheit zu sagen auf die Frage „Was ist es denn?“ – auch wenn die Wahrheit ist, dass man sich selbst gerade nicht sicher ist. Am besten man sagt, wie bei anderen Neugeborenen auch, dass es dem Kind gut geht, dass das Kind gesund ist, denn das sind intergeschlechtliche Kinder in der Regel.

Gleichzeitig ist es natürlich wichtig, psychologische Betreuung anzufordern und anzubieten. Eine ehrliche Aufklärung sollte erfolgen, auch über bürokratische Punkte, wie die Eintragung des dritten Geschlechts beim Personenstandseintrag. In der Überforderung ist es nicht unwahrscheinlich, dass viele Informationen bei den Eltern nicht ankommen – eine Wiedervorstellung und Weitervermittlung sollte auf jeden Fall erfolgen. In Wien gibt es zum Beispiel die Beratungsstelle UNTERWEGS für die Betreuung intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher.

Zur Vertiefung

Roman „Middlesex“ (Jeffrey Eugenides)
Dokumentarfilm „Intersexion“
Empfehlung der Stadt Wien zu respektvollem Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen: https://www.wien.gv.at/menschen/queer/intersexualitaet/empfehlungen.html
Gender Pronouns: https://uwm.edu/lgbtrc/support/gender-pronouns/

Quellen

Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/120105/Schutz-von-intersexuellen-Kindern-Aerzte-stellen-grundsaetzliches-Operationsverbot-infrage
vimö Positionspapier 2020: https://vimoe.at/wp-content/uploads/2020/05/2020_Positionspapier_VIMO%CC%88_PIO%CC%88.pdf
Österr. Parlament: https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2021/PK0692/index.shtml#
Publikation: https://www-ncbi-nlm-nih-gov.ez.srv.meduniwien.ac.at/pmc/articles/PMC7136158/

Abbildungen

Titelbild: Photo by Tim Mossholder on Unsplash
Symbolbild Operation: Photo by Olga Kononenko on Unsplash
Pronouns: Photo by Sharon McCutcheon on Unsplash

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