Die großen Pandemien der Menschheit

von Patrick Fegerl

Viele -mich eingeschlossen- haben die Covid19-Pandemie anfangs unterschätzt. Immerhin hatten wir schon SARS und MERS und Ebola und jedes Jahr sterben abertausende an der (echten) Grippe ohne, dass die Medien deshalb weltweit Panik schieben. Das Studium härtet ein wenig ab vor den reißerischen Schlagzeilen in den Boulevard Zeitschriften und zu Beginn einer Epidemie ist es noch unmöglich zu sagen, wie ernst es wirklich wird.

Inzwischen habt ihr euch wahrscheinlich schon alle schlau gelesen, aber hier ein kurzer Epidemiologie Refresher: Die Endemie ist örtlich, aber nicht zeitlich begrenzt, wie zum Beispiel FSME in Österreich oder Malaria in Malariagebieten. Epidemien sind örtlich und zeitlich begrenzt und gehen meist mit einem raschen Ansteigen der Krankheitsfälle einher. Ein Beispiel wäre das Ebolafieber in Westafrika von 2014 – 2016. Eine Epidemie wird zur Pandemie, wenn sie sich von ihrer örtlichen Begrenzung befreien kann und auf Weltreise geht. Während für Endemien und manchmal auch für Epidemien eine Tier-zu-Mensch-Übertragung notwendig ist, ist für eine Pandemie eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung essenziell.

Ohne Frage haben Globalisierung und Urbanisierung im letzten Jahrhundert ein Schlaraffenland für Viren geschaffen: Millionenmetropolen, in denen Menschen auf engstem Raum leben, sich in öffentliche Verkehrsmittel quetschen und innerhalb von 24 Stunden am anderen Ende der Welt in die nächste U-Bahn steigen können.

Dazu kommt noch, dass die Expansion unseres Lebensraums in immer entlegenere Teile der Welt zu Kontakt mit vielen Wildtieren führt und damit auch zum Kontakt mit vielen unbekannten, potenziell auf den Menschen übertragbaren, Viren.

Für alle Infektiologie-Interessierten, die das Wort Corona nicht mehr hören können, hier also ein kurzer Überblick über historisch relevante Pandemien, von denen es nicht schadet, einmal gehört zu haben.

Pest

Benannt nach dem Schweizer Yersin, der sie erstmals isolierte, trieb Yersinia pestis drei Mal ihr Unwesen in Form einer weltweiten Pandemie.

Einmal im 6. Jahrhundert als „justinianische Pest“ ritt sie auf dem Rücken des Rattenflohs (sogar der Flixbus war ihr zu teuer) ausgehend von der Hauptstadt des oströmischen Reiches, Konstantinopel, über Ägypten nach ganz Europa. Zahlen dazu, wie viele neue Bekanntschaften sie dabei machte, sind nicht bekannt.

Beim zweiten Mal wird vermutet, dass sie ihre Reise von der Krim aus antrat. Damals war nämlich noch nicht Putin, sondern Tatarenführer Dschanibek an der Halbinsel interessiert und ließ bei der erfolglosen Belagerung der Stadt Kaffa schließlich Pestleichen über die Stadtmauer schleudern – hier wird also erstmals der Flugverkehr relevant. Der Bioterrorismus-Theorie zufolge verteilten dann Flüchtlinge aus dieser Stadt den Erreger in ganz Europa, wo sie von 1347-1351 wütete. Vielleicht ist diese (Verschwörungs-)Theorie aber auch nur das Produkt eines mittelalterlichen Österreich/Heute-Artikels. Tatsache ist, dass ein Viertel der europäischen Bevölkerung -etwa 25 Mio.- infolge der Pandemie starb.

Die dritte Pest Pandemie, während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ging aus den chinesischen Provinzen Hunan und Kanton hervor und breitete sich über den Warenverkehr aus Hongkong vor allem in die USA und Indien aus.

Wer glaubt, dass dieses gramnegative anaerobe Stäbchen uns heute keine Probleme bereitet, der*die irrt! Denn obwohl wir dem Bösewicht mit Doxycyclin, Aminoglykosiden und anderen Antibiotika schnell den Garaus machen können, ist die Pest heute in manchen Gebieten wie Madagaskar und Tansania weiterhin endemisch. Spätestens seit wir wissen, wie leer die Seifenregale sind, wenn unsere Mitmenschen sich regelmäßig die Hände waschen, sollte es uns nicht wundern, dass es auch gelegentlich zu kleineren Epidemien kommt.

Pocken

Mehr Sorgen als die bakteriellen Seuchen der Vergangenheit machen uns aber heute Viren. Und mit gutem Grund, denn anders als gegen Bakterien oder Pilze fehlt es uns an einem Breitspektrum-Virostatikum und vermutlich werden wir dieses bei der Vielfalt an Viren auch nie bekommen. Stattdessen nimmt bei dieser Erregergruppe die Bedeutung der Impfungen stark zu, am besten ersichtlich am Beispiel der Pocken (Variola).

Das Orthopoxvirus variolae quälte die Menschheit mindestens so lange wie sie schreiben kann. So war vermutlich die sechste Biblische Plage, die im Alten Testament über Ägypten kam, eine Pockenepidemie. Als Hunnenpocken kamen sie 250 v. Chr. Nach China. Die Römer litten an der antoninischen Pest nachdem eine siegreiche Legion das Virus nach Europa brachte und neben der Bibel brachten die Kreuzritter auch die Pocken in den Nahen Osten. Als die Europäer in die neue Welt segelten, war Variola an Bord und wurde von Sir Jeffrey Amherst auch gezielt als biologische Waffe eingesetzt, indem er Decken von Pockenkranken unter den einheimischen Stämmen verteilte. Da die Native Americans noch nie mit dem Pockenvirus in Kontakt gekommen waren, war keine Immunität in der Bevölkerung vorhanden und die Letalität der Erkrankung höher als die in Europa üblichen 25-30%.

Dass wir die Pocken heute nur mehr aus Vorlesungsfolien kennen verdanken wir der Pockenimpfung, die sich zunutze macht, dass es bei einer Infektion mit Kuhpocken -einer Erkrankung, die beim Menschen wesentlich milder verläuft- eine Kreuzimmunität zum Orthopoxvirus variolae entsteht. Die konsequente Verwendung verschiedener abgewandelter Impfstoffe hat dazu geführt, dass die WHO die Pocken 1979 für ausgerottet erklärte. Obwohl der letzte Fall der echten Pocken 1975 und der letzte Fall der weißen Pocken (Variola minor) 1977 dokumentiert wurden, bunkern manche Länder wie z.B. Deutschland weiterhin Impfstoff, um im Notfall die Bevölkerung schnell durchimpfen zu können.

Die Geschichte der Pocken ist also praktisch die perfekte Anekdote als Argument während einer Debatte mit Impfgegner*innen.

Influenza

Weniger erfolgreich hingegen waren bisher die Bemühungen, einen universellen Grippe-Impfstoff zu entwickeln, was umso bedauerlicher ist, als diese Virengruppe eigentlich der Spitzenkandidat für die nächste weltweite Pandemie -noch vor den Coronaviren- ist.

Der Grund dafür ist das sogenannte Genetic Reassorting. Das Genom der Influenza Viren ist in 8 unverbundene RNA Segmente unterteilt (Typ C nur 6). Ist eine Wirtszelle von mehr als einem Influenzavirus befallen, eine Koinfektion, kann es dabei zu Genetic Reassorting, einem Austausch eines RNA Segments, kommen. Das Ergebnis sind häufig vorkommende Antigenshifts in der Viruspopulation, die den Impfentwicklern jedes Jahr den Kopf zerbricht, wenn sie wie Modedesigner raten müssen, welcher Influenza Subtyp und Antigene dieses Jahr en vogue sein werden.

Die schwerste Influenza-Pandemie schlug sich 1918 nach dem ersten Weltkrieg nieder, als Soldaten aus aller Welt in ihre Heimatländer zurückkehrten und dabei das Virus, noch vor flächendeckendem Flugverkehr, über den Globus verbreiteten. Die Spanische Grippe forderte dabei zwischen 20 und 50 Millionen Opfern – mehr als Soldaten in beiden Weltkriegen fielen.

Anders als bei den Pocken sind die zoonotischen Viren, also Viren aus Tierbevölkerungen, im Falle der Influenza eher unsere Feinde als vielversprechende Impf-Kandidaten.

In seltenen Fällen kann es nämlich zu einem plötzlichen Anstieg der Infektiosität und Letalität eines Stammes kommen. Meistens bei einem Reassorting mit einem zoonitischem Virus oder auch durch spontane Mutationen, die bei RNA Viren häufiger auftreten als bei DNA Viren, da die reverse Transkriptase -ein Enzym, das sie zur Vermehrung brauchen- schlampig arbeitet.

So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die für den Menschen gefährlichsten Viren tierischen Ursprungs sind. Denn Viren, die gut an den Menschen angepasst sind, wären nicht so dumm ihren eigenen Wirt zu töten. Sie würden sich dadurch die Möglichkeit nehmen weitere Wirte zu infizieren und sich besser zu verbreiten. Deshalb sind Humane Papilloma Viren, Herpesviren, das Ebstein Barr und Cytomegalie Virus (meistens) keine lebensgefährlichen Infektionen, sondern koexistieren mehr oder weniger friedlich mit uns. Springt aber ein zoonotisches Virus durch eine Mutation auf den Menschen über oder erhält durch genetisches Reassorting mit einem menschlichen Virus plötzlich das richtige Membranprotein, um an einen Zellrezeptor zu docken, hat dieses Virus keine Zeit gehabt sich an den Menschen anzupassen und löst zum Beispiel eine übertriebene Immunantwort aus, die tödlich endet.

Im Falle der Spanischen Grippe dürfte es sich beispielsweise um eine Form der Vogelgrippe handeln, die durch Mutationen plötzlich in der Lage war Menschen zu infizieren, während die asiatische Grippe 1957 und die Hongkong Grippe 1968-1970 vermutlich durch Reassorting zwischen menschlichen und aviären Grippestämmen entstanden ist. Beide Pandemien werden auf etwa 2 Millionen Tote geschätzt. Vergleichsweise harmlos kostete die Schweinegrippe 2009 weniger als eine halbe Millionen Leben. Und wieder dürfte die Superkraft der Influenza-Viren, das Reassorting, diesmal zwischen zwei Schweinegrippestämmen, zu einem Überspringen zum Menschen geführt haben. Gemeinsam mit der Russischen Grippe von 1889 hat die Schweinegrippe große Ähnlichkeit zur Spanischen Grippe (alle 3 gehören dem Subtyp H1N1 der Influenza A Viren an), was die große mediale und politische Aufmerksamkeit erklärt, obwohl beide Ausbrüche nicht zu den Pandemien gezählt werden.

Ein interessantes Detail der Spanischen Grippe ist, dass sie im Gegensatz zur herrschenden Covid19-Pandemie alte Menschen eher verschonte. Eine Hypothese lautet, dass in vergangenen Grippesaisonen ein ähnliches Antigen exprimiert wurde wie sie die Spanische Grippe hatte, wodurch die ältere Bevölkerung bereits damit in Kontakt gekommen war und wie durch eine Impfung mit einem weniger tödlichen Virus geschützt wurde, aber alle, die zu jung waren, um die Saison mitgemacht zu haben, nicht.

Ein ähnlicher Effekt lässt sich auch von jährlichen Grippeimpfungen erhoffen. Wird man jedes Jahr gegen mehr Antigene immunisiert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man die richtige Gedächniszellen parat hat, sollten die Virolog*innen den Antigen-Trend dieses Jahr falsch vorhersagen. So wie wenn Orange plötzlich the new Black ist und du ein altes oranges Kleidungsstück von vor 5 Jahren aus dem Kleiderschrank zaubern kannst.

Fazit

Jedes Mal, wenn eine Pandemie ausbricht suchen wir Vergleiche, aber wie mir bei der Recherche und dem Schreiben dieses Artikels aufgefallen ist, sind diese Vergleiche eigentlich nicht wirklich zulässig.

Klar, wir können ein paar Daumenregeln aufstellen, wie z.B. dass Retroviren schneller mutieren, weil die reverse Transkriptase zu Fehlern neigt, ein segmentiertes Genom wegen des Antigen Drifts von Vorteil ist oder dass behüllte Viren ihre Antigene schneller ändern können, weshalb Influenza Viren zu den gefährlichsten zählen.

Aber jeder der einmal Plague Inc. am Smartphone gespielt hat (Achtung Schleichwerbung) weiß, dass es im Endeffekt nur auf zwei Zahlen ankommt, um eine erfolgreiche weltzerstörerische Pandemie heranzuzüchten: Infektiosität und Letalität. Und das sind leider beides Zahlen, die man im Endeffekt erst im Nachhinein genau beziffern kann und nicht indem man weiß, dass es einer bestimmten Virusfamilie angehört. In anderen Worten, wir wissen es erst mit Sicherheit, wenn es schon zu spät ist und deshalb müssen wir immer früh handeln.

First things first: Hoffentlich ist der Druck aus der Bevölkerung und international auf die chinesische Regierung diesmal endlich groß genug, um die „wet markets“ endgültig zu schließen. Immerhin verdanken wir dieser Virus-Brutstätte bereits das SARS-Virus.

Und zweitens impfen, impfen, impfen! Es gibt zu viele Viren, die nur darauf warten auf den Menschen überzuspringen und wir können uns nicht auf alle gefasst machen. Aber wir können verhindern, dass vermeidbare Epidemien und Pandemien ausbrechen. Und wenn wir hartnäckig sind, erleben wir es vielleicht noch, dass Masern, Mumps, Röteln und Polio, wie die Pocken, dorthin zurückgedrängt werden, wo sie hingehören: In Hochrisiko-Forschungslabore, aus denen sie hoffentlich nie mehr entkommen! Dann braucht man auch nie mehr impfen, falls ihr jemanden kennt, der*die das ablehnt.

Drittens fällt auf, dass die größten Pandemien der Geschichte meistens mit Kriegs- und Fluchtgeschehen einhergehen. Große Menschenbewegungen und schlechte sanitäre Bedingungen sind der beste Nährboden für die nächste Pandemie. Insofern haben wir alle auch ein egoistisches Interesse daran, dass es allen Menschen auf der Welt gut geht, denn ihr Problem könnte schnell unseres werden. What goes around, comes around, sozusagen.

Aber bevor wir das kleine Problem mit dem Weltfrieden lösen, lasst uns die vielen Corona-Babies auf der Welt begrüßen, die uns daran erinnern werden, dass auch schlechte Zeiten schöne Folgen haben können!

Abbildungen:

Titelbild: Photo by Kuma Kum on Unsplash
Impfungen: Bild von Angelo Esslinger auf Pixabay

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